Sicherheit, Austausch, Unterstützung – gerade für Menschen mit Demenz sind diese Punkte enorm wichtig. Regelmäßige Unterstützungsangebote und Pflegedienste sind hier ein fester Pfeiler. Durch den Corona-Lockdown wurden sie jedoch stark eingeschränkt oder sogar geschlossen – von einem Tag auf den anderen. Britische Forscher*innen haben nun die Auswirkungen auf Betroffene und ihre Angehörigen untersucht.
Nach Angaben des Forschungsteams um Clarissa Giebel von der Universität Liverpool handelt es sich um eine der ersten Studien zum Thema. Die Wissenschaftler*innen befragten telefonisch 42 pflegende Angehörige und 8 Personen mit Demenz. Gut drei Viertel von ihnen waren Frauen. Die meisten der befragten Angehörigen wohnten gemeinsam mit der Person, die sie betreuten, zuhause. In fünf Fällen lebten die Menschen mit Demenz in einem Pflegeheim. Die Interviews fanden im April 2020 statt, als in Großbritannien wie in zahlreichen anderen Ländern weltweit ein Lockdown herrschte.
Aktivierung für Menschen mit Demenz, Entlastung für Angehörige
Die Autor*innen betonen zunächst, wie wichtig soziale Unterstützungsleistungen sowohl für Menschen mit Demenz als auch für ihre pflegenden Angehörigen sind. Darunter fassen sie zum Beispiel Selbsthilfegruppen, Aktivitäten wie Singen und Tanzen, Tagespflege-Einrichtungen, Angebote zur Entlastung oder auch Essen auf Rädern. Hinzu kommen bezahlte Pflegedienste. Menschen mit Demenz erfahren durch diese Angebote Austausch, Anregung, Unterhaltung, Fürsorge und körperliche Pflege. Für ihre Angehörigen, die in Großbritannien wie in Deutschland einen Großteil der Betreuung leisten, bedeuten die Leistungen eine wichtige Entlastung
Interviews mit Betroffenen ergaben drei große Themen
Welche Folgen die Schließung bzw. starke Einschränkung der zahlreichen Angebote hatte, erfuhren die Forscher*innen in den ausführlichen Interviews. Im Mittelpunkt standen die Erfahrungen vor und nach Ausbruch der Corona-Pandemie, vor allem im Hinblick auf Betreuungsdienste, Demenz-Symptome, Herausforderungen und Bewältigungsstrategien. Die Analyse der Interviews ergab drei große Themen: 1. Kontrollverlust, 2. Verunsicherung und 3. Sich an die neue Normalität anpassen und anpassen müssen.
1. Kontrollverlust
Für die befragten Menschen mit Demenz und ihre pflegenden Angehörigen ging der Lockdown mit plötzlichen und drastischen Veränderungen einher. Dadurch entstand ein Gefühl des Kontrollverlustes. Die veränderte tägliche Routine und die fehlende geistige Anregung durch Unterstützungsangebote verstärkte offenbar die Demenz-Symptome. Auch der körperliche Zustand der Betroffenen verschlechterte sich den Angaben zufolge zum Teil.
“Ich denke, je länger es dauert, desto mehr wird er nicht mehr in der Lage sein, zu den Dingen zurückzukehren, die er getan hat”, so die Befürchtung einer Angehörigen. Eine andere äußerte ähnliche Sorgen: “Vor fünf Wochen war mein Vater ein völlig anderer Mensch als heute, und davon wird er sich nicht mehr erholen.“
Eine zusätzliche Sorge bereitete einigen Befragten der Kontakt zu Pflegediensten. Sie hatten einerseits Angst vor einer möglichen Ansteckung mit dem Virus. Andererseits befürchteten sie, die bezahlte Pflegeleistung zu verlieren, wenn sie diese nicht in Anspruch nehmen.
2. Verunsicherung
Wie geht es weiter, wann werden die Angebote wieder zur Verfügung stehen? Darüber herrschte unter den Befragten allgemeine Verunsicherung. Sie befürchteten auch, dass ihre Angehörigen aufgrund des Fortschreitens der Erkrankung dann womöglich nicht mehr in der Lage sein würden, die Angebote überhaupt wahrzunehmen.
Hinzu kam die Verunsicherung im Hinblick auf die öffentlichen Einschränkungen und Maßnahmen. Für viele Menschen mit Demenz, vor allem im späteren Stadium der Erkrankung, waren die neuen Regeln schwer zu verstehen. Immer wieder, so die Autor*innen, hätten Angehörige erklären müssen, warum man zuhause bleiben und einen 2-Meter-Abstand zu anderen Menschen wahren solle. In einigen Fällen hätten die Betroffenen drinnen bleiben müssen, weil sie nicht mehr in der Lage gewesen seien, die Regeln einzuhalten.
Verunsichert waren auch die Befragten, deren Angehörige in Pflegeheimen lebten, da die Einrichtungen für Besuche geschlossen wurden. Sie waren stark abhängig vom Pflegepersonal im Hinblick auf die Kontaktaufnahme zu ihren Angehörigen, etwa per Telefon, und besorgt im Hinblick auf ausreichend Zuwendung und Anregung.
3. Sich an die neue Normalität anpassen und anpassen müssen
Die Interviews zeigten, dass einige Angehörige und Menschen mit Demenz die neue Situation besser annehmen konnten als andere. Manche der Personen mit Demenz, die alleine lebten, schienen nicht so stark von den neuen Regelungen berührt zu sein, weil sie sich zum Beispiel in sozialen Medien austauschten oder sich mit Hobbys wie Gärtnern oder Puzzeln beschäftigten.
Einige wenige Unterstützungsdienste boten der Studie zufolge weiterhin ihre Leistungen an, etwa durch Videokonferenzen oder regelmäßige Telefonate. Für die Befragten konnte das den persönlichen Kontakt jedoch nicht ersetzen. Hinzu kamen technische Hürden, zum Beispiel fehlender Internetzugang oder mangelnde Erfahrung im Umgang mit digitalen Anwendungen.
“Nicht länger tragbar, die lebensnotwendige Versorgung wegzunehmen”
Insgesamt zeigten die Interviews, wie gravierend sich die Schließung der Unterstützungsangebote auf Menschen mit Demenz und pflegende Angehörige ausgewirkt haben. Vor diesem Hintergrund fordern die Autor*innen die Politik auf, die Situation für die Betroffenen zu verbessern: „Es ist nicht länger tragbar, die lebensnotwendige Versorgung wegzunehmen, und die Politik muss sich damit befassen, wie Aktivitäten und Tagesbetreuung wieder aufgenommen werden können, wobei die individuellen Umstände in Bezug auf die Covid-19-Risiken berücksichtigt und mit den Vorteilen sozialer Unterstützungsmaßnahmen in Einklang gebracht werden müssen.“ Dazu empfehlen sie flexible Lösungen, darunter die Verbesserung von Unterstützung aus der Ferne (z.B. via Telefon) und die Nutzung digitaler Technologien. Die Autor*innen betonen jedoch, dass diese Angebote nicht ausreichen und weiterhin durch persönlichen Austausch und Aktivitäten ergänzt werden müssen.
Digitale Angebote als Ergänzung zu vorhandenen Unterstützungsleistungen
Kein Ersatz für soziale Zuwendung, aber eine wichtige Ergänzung, gerade in Zeiten der Corona-Pandemie: Mit dieser Zielsetzung entwickelt auch digiDEM Bayern zurzeit digitale Angebote für Menschen mit Demenz und pflegende Angehörige. Geplant sind unter anderem die digital basierte MAKS-Therapie® für Betroffene und die „Angehörigenampel“, die pflegenden Angehörigen mittels gezielter Fragen den Grad ihrer persönlichen Belastung anzeigt und ihnen damit einen Anstoß zur Veränderung der Lebenssituation gibt. Zudem bietet digiDEM Bayern Forschungspartner*innen die Möglichkeit, die Befragungen für das Projekt virtuell durchzuführen. Damit gibt es einen flexiblen, niedrigschwelligen und vor allem sicheren Zugang für die Beteiligten.
Hier finden Sie die Studie:
Impact of COVID-19 related social support service closures on people with dementia and unpaid carers: a qualitative study (Sept 2020)