Fast alle Menschen mit Demenz zeigen im Laufe ihrer Erkrankung Verhaltensauffälligkeiten, etwa Unruhe, Gleichgültigkeit oder Halluzinationen. Zum Teil kommt es bei den Betroffenen auch zu “sexueller Enthemmung”. Dies ist für pflegende Angehörige laut einer Studie besonders belastend und verstärkt den Wunsch nach einem Übertritt in ein Pflegeheim.
Bisherige Untersuchungen gehen davon aus, dass zwischen 15 und 18 Prozent der Menschen mit Demenz sexuell enthemmtes Verhalten zeigen. Kimberly R. Chapman und ihre Kolleg*innen wollten herausfinden, wie sich ein solches Verhalten auf die pflegenden Angehörigen auswirkt und auf den Wunsch nach einem Übertritt ins Pflegeheim. Den Forscher*innen zufolge haben frühere Studien bereits einen Zusammenhang zwischen Verhaltensauffälligkeiten von Menschen mit Demenz und der Belastung pflegender Angehöriger belegt. Doch speziell die Auswirkung sexueller Enthemmung auf Familienmitglieder sei bislang kaum erforscht. Dabei seien die Angehörigen durch solch ein Verhalten in der Regel stärker belastet als professionelle Pflegekräfte, zum einen aufgrund des gesellschaftlichen Stigmas, zum anderen, weil sie weniger darauf vorbereitet sind als ausgebildete Fachkräfte.
Sexuelle Enthemmung schwierig zu bewerten
Die Forscher*innen befragten für ihre Studie 620 pflegende Angehörige, die sie über verschiedene Social Media-Gruppen kontaktiert hatten. Die Teilnehmenden waren im Schnitt 56 Jahre alt, gebildet (92 Prozent verfügten über mindestens 12 Bildungsjahre) und fast ausschließlich weiblich (94,5 Prozent). Im Durchschnitt gaben sie an, ca. 80 Prozent der Pflege des Familienmitglieds mit Demenz zu leisten.
Während Chapman und ihre Kolleg*innen in Bezug auf die Pflegebelastung auf etablierte Befragungsinstrumente zurück greifen konnten, war das Vorkommen sexueller Enthemmung schwieriger zu bewerten. Sie entschieden sich für ein zweigleisiges Verfahren: Die Teilnehmenden wurden zunächst gefragt, ob ihr Familienmitglied mit Demenz sich innerhalb der vorangegangenen zwei Wochen sexuell anstößig oder beleidigend geäußert oder verhalten hat. Auf einer Skala sollten sie zusätzlich die Häufigkeit angeben, von 1 (nie) bis 7 (mehrmals pro Stunde). Darüber hinaus konnten sie in einem Freitext-Feld jegliches Verhalten nennen, das sie sozial unpassend und/oder peinlich fanden. 16,5 Prozent der Befragten berichteten von sexuell anstößigen oder beleidigenden Äußerungen, 11,1 Prozent von entsprechendem Verhalten. 7,6 Prozent nannten sexuell enthemmtes Verhalten im Freitext-Feld.
Einheitliches Bewertungsverfahren notwendig
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass sich sexuell enthemmtes Verhalten von Menschen mit Demenz stärker auf die Belastung pflegender Angehöriger auswirkt als andere Verhaltensauffälligkeiten. Ebenso verstärkt es den Wunsch der Familien-Angehörigen, Betroffene in ein Pflegeheim zu überführen. Dies macht den Autor*innen zufolge deutlich, welchen großen Stellenwert diese spezielle Verhaltensauffälligkeit in Bezug auf die Pflegebelastung einnimmt. Sie fordern daher ein einheitliches Bewertungsverfahren, ein “Gold-Standard-Verfahren”, mit dem das Vorkommen und der Schweregrad sexueller Enthemmung erhoben werden sowie die Scham oder Verlegenheit, die Angehörige dabei empfinden können. Zudem seien weitere Forschung und Aktivitäten notwendig, um Angehörige in diesem schwierigen Bereich zu unterstützen. Entsprechende Angebote sollten ein besseres Verständnis für sexuell enthemmtes Verhalten fördern, um Scham und Stigma zu reduzieren.
Als Einschränkungen ihrer Studie nennen die Autor*innen u.a. die Online-Rekrutierung via Social Media, die Teilnehmende angezogen haben könnte, die ohnehin schon vergleichsweise belastet gewesen seien. Zudem seien die Demenz-Diagnosen ausschließlich von den Angehörigen angegeben worden, ohne ärztliche Bestätigung. Eine weitere Einschränkung sehen Chapman und ihre Kolleg*innen in der fehlenden Vielfalt der Befragten: Diese waren größtenteils gebildet, weiblich und weiß. Die Forscher*innen empfehlen daher weitere Forschung zum Thema mit einer stärker gemischten Teilnehmer-Gruppe.
Eine Zusammenfassung der Studie finden Sie hier:
The Role of Sexual Disinhibition to Predict Caregiver Burden and Desire to Institutionalize Among Family Dementia Caregivers (Juni 2019)